Das verborgene Leben des Quantengenies Paul Dirac
Biographie von Graham Farmelo (Springer-Verlag 2016)
Rezension vom 18. Dezember 2016
Über die Entstehung der Quantentheorie wurde schon viel geschrieben. Doch einer der wichtigsten Wegbereiter dieser neben Einsteins Relativitätstheorie zweiten großen Revolution der Physik im 20. Jahrhundert blieb dabei stets im Schatten: Paul Dirac. Anders als die eloquenten Vordenker Niels Bohr, Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger war der Brite nämlich Zeit seines Lebens ein rätselhafter Sonderling: zwar extrem begabt darin, elegante mathematische Formalismen zu ersinnen, aber weitgehend unfähig, mit anderen Menschen normalen gesellschaftlichen Umgang zu pflegen. Die brilliante Biographie von Graham Farmelo holt das verborgene Leben des Quantengenies Paul Dirac nun ans Licht.
Der Leser erfährt wie Diracs Gefühlsblindheit – er hatte autistische Züge – und sein strenger Vater seine Kindheit und Jugend trübten. Obwohl Diracs Lehrer in Bristol und seine Professoren in Cambridge seine außergewöhnliche Begabung erkennen und fördern, bleibt er stets ein wortkarger Eigenbrötler. Am ehrwürdigen St. Johns College benennen Diracs Kommilitonen sogar eigens eine neue Maßeinheit nach dem schrägen Vogel: Ein Dirac entspricht der kleinsten vorstellbare Zahl an Worten, die ein sprachbegabter Mensch im Durchschnitt in Gesellschaft anderer von sich gibt – eines pro Stunde.
Paul Diracs Entrücktheit von der Welt tut seinem Genie keinen Abbruch. Allein in seiner Studierstube entwickelt er während seiner Doktorarbeit entscheidendes mathematisches Rüstzeug für die Formalisierung der Quantenmechanik und wird als aufstrebender Stern der Szene gehandelt. Der große Arthur Eddington gratuliert ihm schriftlich zur „außerordentlichen Bedeutung“ seiner Dissertation über „Quantum Mechanics“, die erste überhaupt zu diesem Thema. Der große Wurf gelingt Paul Dirac 1927, als er nach Forschungsaufenthalten bei Niels Bohr in Kopenhagen und bei Max Born in Göttingen zurück nach Cambridge kommt. Nach monatelangem Ringen bringt er die fundamentale Dirac-Gleichung zu Papier, die die relativistische Bewegung von Elektronen beschreibt und zur Vorhersage der Existenz von Antimaterie führt. 1933 erhält Dirac für diesen Durchbruch den Nobelpreis, gemeinsam mit zwei anderen Vätern der Quantentheorie: Werner Heisenberg und Erwin Schrödinger.
Das sorgfältig recherchierte Buch liefert alles, was eine perfekte Biographie ausmacht: Es schildert plastisch alle wichtigen Gegebenheiten, Umstände, Einfälle und Begegnungen im Leben des Paul Dirac. Zum Beispiel die verstaubte Atmosphäre im Cambridge der 1920er Jahre, mit dem unaufgeräumten Cavendish-Labor, in dem Ernest Rutherford bahnbrechende Experimente macht, und mit dem aus Harvard kommenden Robert Oppenheimer, der nach seiner Ankunft in eine Depression verfällt, weil er seine amerikanischen Mitstudenten buchstäblich dahinwelken sieht „unter der Härte, der erlebten Missachtung, des Klimas und des Yorkshire Puddings.“
Wer Eintauchen will in die Geschichte der Quantenrevolution, wer teilhaben will am spannenden Wettstreit ihrer Formulierung und an den packenden Diskussionen, die sich 50 kluge Köpfe in Europa in den 1920er und 1930er Jahren lieferten, für den ist dieses gut zu lesende Buch eine Fundgrube. Wer hätte schon gewusst, dass Robert Oppenheimer in Cambridge versuchte, einen verhassten Tutor mit einem vergifteten Apfel zu töten? Oder dass Niels Bohr wegen seiner großen Hände fast einmal dänischer Fußballnationaltorhüter geworden wäre? Oder dass Werner Heisenberg auch ein glänzender Pianist war?
Die Dirac-Biographie von Graham Farmelo macht ein spannendes Kapitel der Wissenschaftsgeschichte wieder lebendig, indem sie die Visionen und Rückschläge der beteiligten Forscher ebenso anschaulich erklärt wie ihre Freundschaften, sowie ihre privaten, gesellschaftlichen und politischen Konflikte. Niels Bohr hat Paul Dirac später einmal als den ‚seltsamsten Menschen‘ bezeichnet, der an seinem berühmten Institut jemals zu Gast war. Die Biographie von Graham Farmelo liefert faszinierende Einblicke in das Leben und Werk eines großen Physikers, der so seltsam war, dass er andere ständig vor den Kopf stieß, aber eben auch so genial, dass man es ihm nachsehen musste.
Der seltsamste Mensch
Das verborgene Leben des Quantengenies Paul Dirac
Biographie von Graham Farmelo, Übersetzung: Reimara Rössler
Springer-Verlag, 614 Seiten, 34,99 Euro, ISBN 978-3-662-49949-8